Der Experte für Kommunikationsgestörte
Unter denen, die einen Vogel haben, hatte er wohl den schönsten. Vicco von Bülow wäre an diesem Sonntag 100 Jahre alt geworden. Der Humor des Künstlers, der zum beliebtesten Humoristen Deutschlands abhob, ohne charakterlich abzuheben, ist so vogelfrei und anarchisch, dass er bis heute fast keine Altersspuren hat. Der Loriot, wie das französische Wort für den Vogel Pirol heisst, das Wappentier der preussischen Adelsfamilie von Bülow, darf sich freuen: Seine geflügelten Worte («Ein Klavier, ein Klavier!»/«Früher war mehr Lametta») werden immer noch bei vielen Gelegenheiten gezwitschert.
Als er 2011, inmitten des Arabischen Frühlings und kurz nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima, starb, hatte sein Humor schon viel überlebt. Mit Sicherheit wäre dieser Loriot heute einer der begabtesten Influencer überhaupt. Der Sohn einer Offiziersfamilie brachte dafür eigentlich alles mit: Loriot war offen für neue Formate (in den 1960ern für das von der Hochkultur abgelehnte Fernsehen). Er schuf eingängige, nicht überladene Bilder, war multimedial begabt (in Film, Musik, Text, Schauspiel, Illustration, Cartoon und in der Werbebranche). Und er würde mit Intelligenz, Perfektion und preussischer Disziplin massgeschneiderte Inhalte für seine Millionen von Followern kreieren.
Anschauungsmaterial für Kommunikationstrainer
Man kann nur erahnen, mit welchem Schalk dieser Spassvogel heute die boshaften Schlagabtausche auf der Zwitscherplattform X (ehemals Twitter) parodieren würde. «Kommunikationsgestörte interessieren mich am meisten», hat Loriot einmal gesagt. Noch heute nutzen kirchliche Ehevorbereitungskurse und Kommunikationstrainer seine Sketche, um Menschen für gewaltfreie Kommunikation zu sensibilisieren.
Denn in Loriots Ehedialogen geraten sich Paare wegen Nichtigkeiten in die Haare: wegen einem Ei, das zu lange gekocht wurde. Wegen einem kaputten Fernseher, der das kommunikative Vakuum des Paares nicht mehr ausfüllt. Wegen einem Partner, der zu lange untätig auf einem Sofa sitzt. Loriot-Figuren reden aneinander vorbei und wissen selbst nicht, warum ihnen die Kontrolle über ihr Gespräch entgleitet. Mit bester Absicht verletzen sie die Anstandsregeln und ihr Gegenüber. «Ich liebe Umgangsformen und Umgangsregeln, weil ich glaube, dass es die einzige Möglichkeit ist, gefahrlos miteinander umzugehen», hat Loriot einmal vor Jahrzehnten gesagt, und seine Zeitdiagnose ist auch heute noch von Gültigkeit: «Für mich rührt ein Teil unserer aus den Fugen geratenen Politik auch daher, dass bestimmte menschliche Formen nicht eingehalten werden.»
Ob Populisten und Internettrolle für ihn dasselbe Humorpotenzial gehabt hätten wie die Ehepaare und gesetzten Herren mit Knollennase, die in einer Badewanne um eine Gummiente streitend ihre Würde verlieren («Herren im Bad»)? Wahrscheinlich nicht. Loriot schöpfte seine Komik gerade aus denjenigen Menschen, welche die Anstandsregeln einer Gesellschaft respektieren. Die jedoch kläglich scheitern beim Versuch, sie auch einzuhalten. Seinem Humor lag das Schamgefühl einer Gesellschaft zugrunde, nicht ihre Schamlosigkeit. Wer sich den Anstandsregeln bewusst verweigere, sei nie komisch, hat er einmal gesagt. Ein Votum, das heute noch gilt, für Internettrolle und Krawallmacher wie Donald Trump.
Selbstironie als Lebensart
Trotzdem würde er diesen Menschen auch heute noch eine wichtige Lektion auf den Weg geben: Loriot brachte den Deutschen in der Nachkriegszeit etwas bei, das den Ideologen von heute ebenso abgeht wie seinen um ihr positives Selbstbild gebrachten Landsleuten von damals: nämlich Selbstironie. Wegen dieser ausserordentlichen Begabung erreichte Loriot eine breite Bevölkerungsmasse. «Wenn man etwas Bestimmtes an den Mann bringen möchte, dann sollte man es in einer Form tun, die den anderen nicht zwingt, das Visier zuzumachen», war er überzeugt.
Auf die neue Konsum- und Mediengesellschaft der Nachkriegszeit reagierte der den Kulturkanon des 19. Jahrhunderts liebende Wagner-Freund deshalb nie mit Dünkel und Spott, wie es moralinsaure Comedians wie Dieter Nuhr mit ihrer «Früher war alles besser»-Attitüde heute tun. Er wusste um das Gestrige seiner Vorlieben und er ironisierte sie. Loriot hatte das 19. Jahrhundert bei seiner Berliner Oma eingeatmet, bei der er nach dem frühen Tod seiner Mutter aufwuchs. In seinen altmodisch mit Fliege und Stresemann eingekleideten Knollennasenmännchen war Loriot, der sechzig Jahre mit derselben Frau verheiratet war und zuletzt mit seiner Familie auf einem Anwesen am Starnberger See lebte, immer mitgemeint.
In diesem Widerspruch zwischen adrettem Auftreten und der formlosen Physiognomie seiner Knollennasenmännchen ist schon fast alles über Loriots Humor gesagt: Da arbeiten Menschen pausenlos an ihrem Image und ihrer Rolle in der Gesellschaft und scheitern blind an ihren Unzulänglichkeiten. Auch deshalb hat Loriot gerne Tiere für Sketche eingesetzt. Mit seinen Möpsen Henry und Gilbert («Ein Leben ohne Mops ist möglich, aber sinnlos») stellte der selbst erklärte Spassvogel in den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren im winterlichen Garten eine Nordpolexpedition nach und liess die beiden auf dem Mond landen. Der Mensch als Krone der Schöpfung? Lächerlich.
Bereits als frischer Kunsthochschulabgänger zeichnete Loriot für den «Stern» menschengrosse Hunde, welche kleine Menschen an der Leine Gassi führen. Die Leser fanden das widerlich. «Eine Herabwürdigung des homo sapiens» war noch eine der freundlichsten Rückmeldungen an den Verlag. Verleger Henri Nannen brach das Experiment vorzeitig ab. Zum Glück fand sich im Schweizer Daniel Keel ein jüngerer Verleger, der die Zeichnungen in Buchform veröffentlichte. «Auf den Hund gekommen» wurde 1954 für den neu gegründeten Diogenes Verlag zum Bestseller. Fortan sollten Loriots Knollennasenmännchen eine beispiellose Karriere bis ins Farbfernsehen hinlegen.
Ab Ende der 1960er-Jahre präsentierte er erste Zeichentrickfilme in der Sendung «Cartoon»– auf einem rotsamtenen Biedermeiersofa. Wenige Jahre später sass er auf einem ebensolchen Sofa in Grün. Unvergessen bleibt der «Nudel»-Sketch, in dem Loriot seiner Angebeteten in einem Restaurant eine Liebeserklärung macht, während ein Nudelstück über sein Gesicht wandert. Der Sketch, den er extra für seine kongeniale Partnerin Evelyn Hamann schuf, schrieb Fernsehgeschichte.
Die Macht liegt beim Volk
In dieser wie in anderen Szenen standen nie Exzentriker im Zentrum von Loriots Komik, sondern der Mensch in seiner Durchschnittlichkeit. Der fühlt sich in ungewohnten Rollen schnell überfordert: beim Einkauf, in den Italienferien, als Lottogewinner vor der Kamera. Die Helden seiner späten Spielfilme, in denen er Regie und Hauptrolle übernahm, sind bemitleidenswerte alternde Männer: der lebensfremde Mamasohn im Spielfilm «Ödipussi» (1988) wie auch der Einkaufsdirektor, der nach seiner Pensionierung das Familienleben managen will in «Pappa ante Portas» (1991), scheitern tragisch beim Versuch, Haltung zu bewahren.
Viele haben Loriot den fast ausschliesslichen Rückzug ins Private vorgeworfen. Er wusste darauf stets mit dem Satz zu kontern, dass die Macht in einer Demokratie nicht «oben im Staat», sondern bei den Wählern selbst liege. Ein Glück für ihn, denn diese Konzentration auf menschliche Defizite, egal ob bei der Beschreibung einer Ehe oder von öffentlichen Personen, machen seinen Humor zeitlos. Nicht einmal die vielen frauenfeindlichen Kommentare seiner Figuren kann man ihm heute übel nehmen. Loriot beschrieb, was er sah. Mit einem liebenswürdigen Blick fürs Ganze.
«Ich sehe bei einem Studenten, der in unverantwortlicher Weise die öffentliche Ordnung gefährdet, genauso den Funken Berechtigung wie bei einem Rechtsextremisten, der sagt, wir können diese Menschheit nur mit Knüppeln und Polizeigewalt zurechtbiegen», hat er in einem seiner vielen Interviews gesagt. «Beide sind mir gleich unangenehm, aber beide haben in einem bestimmten Punkt recht. Und dieses ‹etwas Richtige› in allem kann ich nicht übersehen.» Es sei eine Stärke und Schwäche zugleich. Aus heutiger Sicht muss man sagen: eine Stärke, die man schmerzlich vermisst.