Der Agent von gestern
Vom Spion zum Kriegsherr: Nicht nur mit seinem Angriff wirkt Wladimir Putin wie aus der Zeit gefallen. Auch seine Inszenierung stammt aus einem anderen Jahrhundert. Sie verrät viel darüber, wie der gefürchtetste Mann der Welt tickt.
Der Spott der Welt war gross, als der russische Präsident Wladimir Putin letzte Woche in einer bizarren TV-Ansprache der Welt eine einstündige Geschichtslektion erteilte. In ihr kehrte Zarenreich und die Sowjetunion auf die Landkarte zurück. Putins Krawatte hing schräg an ihm herunter. Die vergilbten Tastentelefone auf einem Nebentisch erweckten den Anschein, als sitze der Präsident in einer Hotelrezeption aus den 1970ern. Wäre der Grund für das Ereignis nicht so ernst gewesen, man hätte gelacht.
Die Schweizer Satirikerin Patti Basler twitterte:
Kaum ist Bond 007 tot, könnte man ihn wirklich mal brauchen #StopPutin
War man mit dem ehemaligen Geheimagenten Wladimir Putin im falschen Film gelandet? In irgendeinem Kalt-Kriegs-Streifen auf einer Videokassette, die man beim nächsten Umzug eh entsorgt hätte? Das war doch nicht das 21. Jahrhundert. Oder etwa doch? Während der smarte ukrainische Präsident und Showman Wolodimir Selenski virtuos die Social-Media-Kanäle bespielte, schien Putin plötzlich um Jahre gealtert zu sein. Video: YouTube/ntv Nachrichten
Für den in der Schweiz lebenden russischen Literaturwissenschafter Alexander Markin kommt dieses Aus-der-Zeit-gefallen-Sein nicht überraschend. Bereits 2016 wies er in einem Essay auf das Gekünstelte von Putins Auftreten hin. Ihn verwundert nicht, dass sich der Autokrat gar nicht erst die Mühe machte, seine angebliche Liveschaltung aus dem Katharinensaal des Kremls von vergangener Woche überzeugender zu inszenieren.
Dass die Uhren der Repräsentanten des nationalen Sicherheitsrats, die auf Stühlen aufgereiht und möglichst weit von ihrem Chef entfernt sitzen mussten, eine andere Zeit anzeigten als die der übrigen Welt, war für das grosse Ganze nicht so entscheidend.
Der russische Präsident lässt kein vorgeblich authentisches Celebrity-Foto von sich schiessen. «Das ungelenk Gekünstelte wird nicht verborgen, es wird regelrecht zur Schau gestellt», stellt Markin fest. Und das sieht dann so aus: Putin reitet oben ohne zu Pferd durch die Taiga. Fischt und jagt Tiger in der Wildnis. Er ist Kampfjetpilot. Oder begutachtet mit seinem Verteidigungsminister in einer Holzhütte ein archaisches Wurzelwerk.
Die «Süddeutsche Zeitung» nannte die Fotoserien des Kreml einmal den «Pirelli-Kalender des Politikbetriebs». Und dieses Pirelli-Bildreservoir füllt Putin mit Szenen sowjetischer Abenteuer- und Agentenfilme, die in den vor 1960 geborenen Russinnen und Russen, die Putins Macht passiv oder aktiv mitstützen, warme Kindheitsgefühle auslösen. «Die Russen lieben den Kitsch, das offensichtlich Künstliche», so Markin. «Diese Inszenierungen verzaubern.» Plumper Heroismus und Archaik verschmelzen da zu bizarren, gestrigen Bildern. Putin erklärt Weltgeschichte - auch mit primitiven Plots.
Putin erklärt die Welt mit dem «Dschungelbuch»
Wen verwundert es da noch, dass Putin letztes Jahr in einer Rede die USA als bösen Tiger Shir Khan und die Europäer als dessen Schakale beschimpft hat? Mit dem britischen «Dschungelbuch» - Autor Rudyard Kipling (1865-1936) - teilt Putin mehr als die Faszination für eine archaische Wildnis und das im Tierreich geltende Recht des Stärkeren. Kiplings Begeisterung für das britische Empire dürfte auch Putins Herz höherschlagen lassen.
Der Ex-Geheimagent ist in der Öffentlichkeit ein leeres Zentrum. Sein Privatleben schirmt er ab. Die Welt hält er auf Abstand. Der Autokrat schreibt keine Mails. Die Bewirtschaftung des Internets überlässt er seinen Trollfabriken. Putin liest keine Zeitung. «Aktuelle Nachrichten erhält er durch Akten, die ihm zugestellt werden, oder durch rote Dossiers, die ihm von Mitarbeitern auf dem Schreibtisch bereitgelegt werden», schreibt der Philosoph Michel Eltchaninoff in seinem Buch «In Putins Kopf». Im Gegensatz zu westlichen Spitzenpolitikern ist das meiste, was man über ihn sagt, Spekulation.
Die Leere, die der sechs Meter lange Marmortisch ausstrahlte, an dessen Ende Putin kürzlich europäische Staatschefs empfing, ist bezeichnend für die Art, wie Putin Macht inszeniert: In den repräsentativen leeren Räumen des Kreml ist Demokratie ein Schauspiel für die Kamera. Das Drehbuch dazu ist längst geschrieben, Räume und Menschen sind überflüssig. Ein halbes Dutzend soll zu seinem engsten Beraterstab gehören.
Alexander Markin ist überzeugt:
«Putin regiert die Leere und in der Leere.»
Die zwei Jahre Pandemie, die er gerüchteweise in einem Bunker zugebracht haben soll, dürften den Glauben an seine paranoide, realitätsferne, aber in sich geschlossene Erzählung noch verstärkt haben. Sie handelt von Russland, dem Opfer westlich-imperialer Machtgelüste. Das russische Volk kommt darin als abstrakte Grösse vor, Putin als starker Führer, der für die Ausstaffierung seiner Rollen im kulturellen Gedächtnis der Sowjetzeit plündert - was seine Performance im Westen wie ein Reenactement des Kalten Krieges erscheinen lässt. Bild: keystone
Eltchaninoff hat die Zutaten dieser Opfergeschichte zusammengetragen: Die orthodoxe Kirche als Fundament der Werte, die dem Westen angeblich abhandengekommen sind, und ein Konservatismus, der die Sowjetzeit verklärt - auch die Vorstellung von Russland als überlegener Weltmacht. Putins nationalistische Staatsideologie fusst auf der Lüge, die Sowjetunion sei vom Westen zugrunde gerichtet worden. 2005 bezeichnete er in einer offiziellen Ansprache den Zusammenbruch der UdSSR als «die grösste geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts».
Grosse Geister für grössenwahnsinnige Vorhaben
Wie viele in der Sowjetunion geborene Menschen hat Putin einen fast religiösen Respekt vor Büchern. Er zählt grosse russische Schriftsteller wie Dostojewski, Tschechow oder Tolstoi zu seinen Lieblingen. Er zitiert Kant. Er macht sie mit einer Copy-Paste-Strategie in Reden zu Komplizen für seine kruden Weltanschauungen, die er passgenau auf seine Gegenüber zuschneidet, um sie zu manipulieren.
Am Abend der ukrainischen Präsidentschaftswahlen 2014 lief im russischen Fernsehen eine Serienadaption von Dostojewskis Roman «Die Dämonen», die den Literaten für eine Kampagne gegen die proeuropäischen Kräfte einspannte. Gegenüber dem ehemaligen deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder zitierte Putin gerne Kant. Aus heutiger Perspektive klingt es zynisch, wenn er sagt: «Ich erinnere ausserdem daran, [?] dass Kant kategorisch dagegen war, zwischenstaatliche Meinungsverschiedenheiten durch Krieg zu lösen.» Logisch, dass Putin sich mit Kant-Zitaten heute etwas zurückhält.
Zwar veröffentlicht Putin seine Bücherlisten nicht auf Twitter wie Barack Obama. Aber er organisiert Philosophieseminare für die Elite. Anfang 2014 hat er hohen Funktionären, Parteikadern und Gouverneuren drei philosophische Werke von Denkern aus dem 19. und 20. Jahrhundert geschenkt.
Das perfekte Drehbuch für die eigene Karriere
Eines stammt vom Philosophen Iwan Iljin (1883-1954), einem Monarchisten. Iljin ist im Schweizer Exil gestorben. Er läge da noch immer in seinem Grab, hätte Putin ihn nicht herausgeholt und seine Gebeine nach Russland überführt. In seinen Schriften hat Putin das perfekte Drehbuch für seine Karriere gefunden. Iljin machte sich Gedanken, wie Russland nach dem Zusammenbruch des Kommunismus aussehen könnte. Er fordert starke Männer, die das Land an der Spitze vor dem postkommunistischen Chaos retten sollten. Und er legitimiert staatliche Gewalt im Namen des Guten. Putin dachte bei der Lektüre wohl zuallererst an sich selbst.
Auch für seine Geschichtslektion am Fernsehen scheint Putin bei seinem Vorbild abgeschrieben zu haben: Iljin spricht Staaten wie der Ukraine die Fähigkeit ab, ein eigener Staat zu sein. Auch über die Beziehungen Russlands zum Rest der Welt hat er klare Vorstellungen. Wenn Putin die Schrift «Was verheisst der Welt die Aufteilung Russlands» studiert hat, «dann hat er sich keineswegs blindlings und unvorbereitet auf sein ukrainisches Abenteuer eingelassen», ist Russland-Kenner Eltchaninoff überzeugt.
Der Philosoph behauptet darin, imperialistische Nachbarn würden versuchen, Russland zu zerstückeln und Territorien wie die Ukraine von Russland abzutrennen. Der Westen könne die russische Eigenständigkeit nicht ertragen. Er werde versuchen, mit der heuchlerischen Werbung für Werte wie die «Freiheit» seine militärischen Interventionen zu legitimieren.
Kann man Putin stoppen? Wohl kaum. Aber: «Was Putin vergisst, ist das Ende solcher Missionen - egal ob in der Literatur oder in der Wirklichkeit», sagt Alexander Markin. «Am Ende wartet der Absturz.»