Gut gezwitschert, Spassvögel!
Twitternde Satirikerinnen und Satiriker produzieren auf ihren Accounts Tag für Tag Gags am Laufband. Ohne Auftrag und völlig umsonst. Was treibt sie an?
Seit der deutsche Satiriker Jan Böhmermann seine Tweets gelöscht hat, um sie als Aphorismensammlung zwischen zwei Buchdeckeln zu veröffentlichen, steht wieder einmal die Frage im Raum, ob die 280 Zeichen kurzen Instant-Reflexe auf unsere Weltlage, Tweets genannt, so etwas wie Literatur sein könnten. Böhmermann, der am 16. Januar 2009 seine Twitter-Karriere mit dem Wörtchen «Hunger» startete, lässt 11 Jahre und 2,2 Millionen Follower später die PR-Abteilung seines Verlages Lobeshymnen auf sein Druck-Erzeugnis singen: Tweets seien «die Aphorismen der Gegenwart», heisst es in der Verlagsankündigung zu «Gefolgt von niemandem, dem du folgst». Von einer «radikal neuen Geschichtsschreibung» ist die Rede, geschrieben «in der Tradition grosser Moralisten wie Montaigne oder Lichtenberg». Böhmermann biete seinen Lesern eine «Kulturgeschichte des vergangenen Jahrzehnts».
Soll man dem Satiriker den Vogel zeigen? Hält er uns zum Narren? Oder steckt ein Fünkchen Wahrheit in seiner Selbstüberhöhung?
Das Potenzial zum Aphorismus, dem geistreichen, kurzen Satz mit hohem Erkenntnisgewinn, hat der Tweet durchaus. Der berühmte Karl-Valentin-Aphorismus «Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von allen» hätte im Stimmendurcheinander der Plattform Twitter sogar einen ganz besonderen Reiz. Denn hier geht es gar nicht so sehr darum, dass jemand etwas sagt, sondern wie er es tut.
Sind Gratis-Gags auf Twitter schlecht fürs Geschäft?
Das Wie beherrscht nicht nur Böhmermann, sondern auch eine Handvoll Satirikerinnen und Satiriker hierzulande, von den altgedienten Humorprofis Mike Müller oder Viktor Giacobbo über Patti Basler, Gabriel Vetter oder jüngere Fernsehsatiriker wie Dominic Deville oder seinen ehemaligen Sidekick Patrick «Karpi» Karpiczenko. Sie twittern, um ihr Produkt zu bewerben, um ihr Publikum bei Laune zu halten oder einfach nur, um die Humormuskeln zu trainieren. Noch viel öfter laden sie ihre Witzerzeugnisse aus purer Lust an der Sache auf die Plattform. Und weil das unbekannte Privatpersonen manchmal genauso gut machen, ist die Plattform ein heimlicher Talentbasar geworden. Wie das SRF auf Anfrage bestätigt, werden auf Twitter auch Gagschreiber für die eigenen Satire-Formate rekrutiert. Zum Beispiel Autor Manuel Weingartner, der schon Pointen für «Giacobbo/Müller» schrieb. Entdeckt hatte ihn Viktor Giacobbo persönlich.
Vieltwitterer und Kabarettist Gabriel Vetter (10’500 Follower) ist der selbst ernannte «Mozart des Schweizer Schmunzeltwitters». Auch unter Kolleginnen und Kollegen gilt er auf Twitter als heimlicher Champion. Hier erlebt man den mit dem Bünzlitum kokettierenden Künstler unberechenbar, tabulos und angriffig. «Twitter ist für mich das freiste Medium überhaupt», sagt er. Denn für Vetter ist das in erster Linie ein ästhetisches Medium und kein politisches Sprachrohr. Vetter liebt das Verwirrspiel mit vermeintlich politischen Ansichten und Identitäten. Seine Strategie: In einen brav sich entwickelnden Meinungsdiskurs ein Stöckli werfen und davonspringen. Etwa, als er anlässlich des Todes der US-Bundesrichterin Joan Ruth Bader Ginsburg in all die andachtsvollen «R. I. P. Ginsburg»-Bekundungen einwarf: «Habe ich das richtig verstanden, Marco Rima hat Bader Ginsburg umgebracht?»
«Wenn ein Tweet von allen gutgeheissen wird, ist er zu eindeutig. Dann ist es kein guter Tweet», so Vetter. Er sucht nicht den Zuspruch aller, sondern den Zwiespalt. Seine goldene Regel: Niemals antworten. Und wenn doch, dann wie ein Irrer auf seiner irren Behauptung bestehen. Dass auf Twitter sogar Inhalte anderer Menschen zur Satire werden, wenn er sie postet, findet er ebenfalls grossartig.
Macht man sich als arrivierter Künstler nicht das Geschäft kaputt, wenn man sämtliche Gags auf Twitter verwurstet?
«Zu Beginn hatte ich Angst, dass Twitter zu einer Schnelldeponie für neue Ideen werden könnte», sagt Vetter, der oft aus Ungeduld Gags auf Twitter stellt. Doch was auf Twitter funktioniere, sei auf der Bühne oft unbrauchbar und umgekehrt. Nur wenige Tweets landen in seinen Bühnenprogrammen. Renato Kaiser (5105 Follower) lehnt das Recycling hingegen grundsätzlich ab, aus Respekt vor seinem Publikum. «Ich verkörpere in meinen Programmen sowieso nicht den schnellen Witzeerzähler, sondern setze mehr auf die lange Form», so Kaiser.
Für die «Arena»-Instant-Protokollarin Patti Basler (5353 Follower) ist ebenfalls nur eine schmale Bandbreite ihrer Beiträge twittertauglich. Während ihre Wortspiele auf Facebook und Instagram die Klickzahl hochgehen lassen, rhythmische Nummern auf der Bühne funktionieren, gehen auf Twitter meistens die hochaktuellen politischen Inhalte viral, wie ihr am 20. September gepostetes Gedicht, in dem sie den abgesagten Protestmarsch der Abtreibungsgegner durch die Strassen Zürichs und das Flüchtlingselend miteinander verquickte.
«für viele führt ihr einziger Marsch fürs Läbe über die Balkanroute.»
«Auf Twitter tummeln sich vor allem Politikerinnen, Journalisten, Wissenschafterinnen und Autoren. Leute mit viel politischem Wissen, oft mit tertiärem Bildungshintergrund. Da funktionieren politische Inhalte besonders gut», so Basler. Diese Menschen seien aufgrund ihrer Bildung in der Lage, Inhalte auf wenige Zeichen zu verdichten.
Wie Basler besitzen alle twitternden Satiriker ein starkes Medienbewusstsein. Sie wissen, wie die Plattform funktioniert. Und sie kennen die Grenzen des Anstands. So würde Gabriel Vetter niemals einen Tweet eines Unbekannten der Lächerlichkeit preisgeben.
Und man ist sich einig, was den Schöpfungsakt angeht: Es muss schnell gehen. Sehr schnell. «Jedem Tweet, über den du zu lange nachdenkst, merkt man das an», findet Vetter. Satirische Tweets müssten «faule Medien sein, schnell und schludrig geschrieben».
Bühnentugenden wie Präzision und Timing zählen nicht. Aphorismen dürfen auch zu Kalauern verkommen, das sei Teil des Spiels.
Dem Publikum Häppchen zum Frass vorwerfen
Ihr Handwerk als Slampoetin kommt Patti Basler beim Twittern da zu Hilfe. Im Poetry Slam sind schnelle Pointen ein Erfolgsgarant. «Als Slampoetin probiere ich aus, werfe dem Publikum etwas zum Frass vor, auf Twitter lasse ich mich statt mit Applaus mit Likes bestätigen.» So verwundert es nicht, dass viele ehemalige und aktive Slampoeten auf dem Netzwerk ihr Unwesen treiben. Renato Kaiser, Lisa Christ, Gabriel Vetter oder Hazel Brugger schaukeln sich gegenseitig hoch wie an einem guten Abend unter Freunden, um im Bild des Psychoanalytikers und Satirikers Peter Schneider zu bleiben, der Twitter als einer der wenigen nicht aktiv als Satireplattform nutzt.
Dass manche Satiriker auf Twitter angriffiger sind als auf der Bühne, bleibt nicht ohne Konsequenzen. Als Gabriel Vetter vor Jahren den damals noch als Gemeindeammann von Oberwil-Lieli amtierenden SVP-Politiker Andreas Glarner nach dem Vorbild des Erdogan-Schmähgedichts von Jan Böhmermann Sodomie mit Geissen nahelegte, habe Glarner mit rechtlichen Konsequenzen gedroht.
Ob man sich mit satirischen Beiträgen auf Twitter schneller einer Rechtsverfolgung aussetzt, ist allerdings nicht eindeutig. Das Label «Satiriker» garantiert auch auf Twitter keine Narrenfreiheit. Für die Satire-Rechtsexpertin Raphaela Cueni ist klar: Rechtlich unterliegen die Äusserungen auf Bühne oder Twitter denselben Regeln. Doch könnte die grössere Reichweite der Plattform bei der Beurteilung, ob im untersuchten Fall eine widerrechtliche Ehrverletzung vorliege oder nicht, hineinspielen.
In Gabriel Vetters Fall blieb es bei einer Drohung. Auch der Nachrichtendienst Twitter hat noch keinen seiner Beiträge gelöscht. In Deutschland stand Twitter in den letzten Monaten in der Kritik, weil die Plattform nach Einführung einer neuen Richtlinie zahlreiche satirische Beiträge mit dem Vorwurf der Wahlbeeinflussung gelöscht hatte. «Es wäre notwendig, dass Twitter die Moderatoren im Umgang mit satirischen Äusserungen besser schult», findet Raphaela Cueni.
Renato Kaiser, dem noch nie Beiträge gelöscht wurden, ist einer der wenigen, die auch auf Twitter lieber zweimal denken, bevor sie in die Tasten hauen. «Egal, was du tust, es hat sicher schon jemand einen Screenshot davon gemacht», sagt er. Besonders heikel findet er, wenn seine Tweets in die Medien wandern. Wenn ihn dann eine Hasswelle trifft, weiss er, es ist wieder einmal passiert. «Ohne Kontext kann so ein Tweet falsch rüberkommen bei den Leuten, die mich nicht kennen.» Und noch etwas ist Kaiser ein Graus. Wenn Politiker ihre rassistischen Beiträge als Satire deklarieren. «‹Das war doch nur ein Witz› ist die faulste Ausrede, seit es Humor gibt.»
Patti Basler @PattiBasler
Die Lyrikerin im Prosa-Getwitter
Es braucht oft zwei bis drei Denkschleifen mehr, bis man die gut getarnte Botschaft in Patti Baslers Tweets erkannt hat. Aber gerade der Anspielungsreichtum ihrer sprachspielerischen, oft sehr ambivalenten Tweets macht sie zu einer der spannendsten Twitterfiguren überhaupt.
Es war @JoeBidens innerer Bündner, der flüsterte: «Uf de Vize-Poschta kasch KA-MA-LA.»
Mike Müller @MikeMuellerLate
Lustige «Twitteraden» auf Politiker und Behörden
Fast täglich schreibt Mike Müller auch nach seiner TV-Pensionierung bei «Giacobbo/Müller» gegen den Irrsinn dieser Welt an, duelliert sich mit Schweizer Rechtsaussenpolitikern und macht politische Satire in Reinform. Wer ihm folgt, muss sein politisches Wissen stets auf dem aktuellsten Stand halten.
Erneute Richtigstellung durch @BAG_ OFSP_UFSP: Fax-Anschluss vertauscht +++ heutige Corona-Zahlen sind gemeldete Zeckenbisse +++ Bill Gates kontrolliert den Markt für Kochsalzlösungen +++ bis Ende Jahr Gratisimpfungen mit Wasser aus dem Marzilibad
Gabriel Vetter @gabrielvetter
Der «Mozart des Schweizer Schmunzeltwitter»
Seinen ersten Tweet schrieb Vetter 2012: «Welcome to Twitter. Fuck everybody. Amen.» Und daran hält er sich. Vetter lenkt gern Debatten jenseits von Gut und Böse in eine völlig neue Richtung. Gottesdienste stören, nennt er das. Das Erratische seiner Beiträge macht ihn zu einem Pulverfass.
Zentralschweiz bombardieren. Jets dafür haben wir jetzt ja. #Abstimmungssonntag
Güzin Kar @Guzinkar
Die «Triebtäterin» treibt’s auch auf Twitter ziemlich bunt
Pointiert, hochironisch und meinungsstark, wie man sie aus ihren «Triebtäterin»-Kolumnen kennt, berichtet die Drehbuchautorin, Regisseurin und Kolumnistin Güzin Kar («Seitentriebe») auch auf Twitter aus ihrem Alltagsleben und übt beissende Medienkritik. Erfrischend ehrlich und immer für Überraschungen gut.
Schön saftig. Einfach überall dazuschreiben. Wie ist der Apfel, der Kuchen, das Referat, die Slipeinlage, das Baby? Schön saftig. Schön saftig ist das «aktiv» der 2000er, das «spassig» der 90er und das «no future» der 80er. Mein Apfelkuchen? No future, aber schön saftig.
Renato Kaiser @Renato_Kaiser
Die Mutter Teresa im Twitter-Haifischbecken Menschlichkeit
Mit Menschenliebe und maximaler Freundlichkeit schwimmt Renato Kaiser im Haifischbecken Twitter und ist trotzdem kein stummer Fisch, der alles schluckt. Bei Stigmata-Alarm und verstecktem Rassismus eilt er schnell zu Hilfe! Und wenn die Welt ganz kopf steht, reicht kein Tweet, dann muss ne Videobotschaft her.
Wenn die Leute hören, dass ich nicht so gut albanisch* kann, weil meine Mutter zu Hause zu wenig albanisch* mit mir gesprochen hat, finden sie’s immer mega schade wegen der gratis Zweisprachigkeit, die mir durch die Lappen gegangen ist. *italienisch
Patrick Karpiczenko @Karpi
Mit Charme und Scherz zum Angriff
Der ehemalige Sidekick von Dominic Deville ist ein experimentierfreudiger Twitterer, der vom Vaterschaftsurlaub aus gerade viel Babycontent generiert. Am liebsten erklärt er in Bild-Text-Scheren die Welt. Karpi: «Twitter ist eine wunderbare Alternativwelt. Ein Utopia, das sich Hirnwichser wie ich immer gewünscht haben.»
0–1 Lebensjahr = Säugling
2–99 Lebensjahr = Sitzling