«Wir werden nachhaltig erschüttert»
Nicolas Stemann, Co-Intendant des Schauspielhauses Zürich, findet, dass uns Humor und Sinnlichkeit abhandengekommen sind.
Ein Theater, das nicht spielt, sei schwerer zu leiten als ein Theater, das spielt, versichert Nicolas Stemann am Telefon. Er muss es wissen. Die Theater sind für Publikum derzeit geschlossen, sein Haus geht in diesen Tagen in die Weihnachtspause. Dass er gerade seine Kinder für ein paar Tage allein betreuen muss, weckt Erinnerungen an den Lockdown von Anfang Jahr. Seine künstlerische Auseinandersetzung damit liegt nun als Buch vor.
Sie waren während des Lockdowns so etwas wie ein Chronist der Pandemie. Nun ist Ihr Theater wieder zu. Was ging Ihnen beim Wiederlesen der Texte durch den Kopf?
Nicolas Stemann: Wie schnell man die Erfahrungen, die man einmal gemacht hat, wieder vergisst. Wie man immer wieder neu überrascht wird und überhaupt nicht in der Lage ist, sich an so eine Situation zu gewöhnen. Man denkt die ganze Zeit, das kann jetzt nicht mehr allzu lange dauern. Dabei dauert das jetzt schon bald ein Jahr. Ich finde das schon sehr komisch.
Premieren werden an Theatern schon seit Monaten verschoben. Kriegt man als Künstler eigentlich noch den Kopf frei für Neues?
Das ist wahnsinnig frustrierend, und es zehrt sehr an den Kräften. Ich sehe das auch bei meinen Kolleginnen und Kollegen am Haus. Es ist hart, die ganze Zeit zu arbeiten, und dann wird es schon wieder nicht gezeigt. Man hält das nur durch, wenn man die Situation verdrängt. Wenn ich probe, muss ich davon ausgehen, dass meine Arbeit auch rauskommt, sonst kann ich nicht arbeiten. Ich habe zwei fertige Produktionen, die bislang keine Premiere hatten – und probe jetzt die dritte. Das ist eigentlich verrückt
Wie hält man das psychisch durch?
Mich als Künstler hatte die ganze Situation ja erst einmal kreativ getriggert, und wo das Theater plötzlich zu war, musste ich mir halt andere Bühnen suchen. Ich habe während des Lockdown Kolumnen für die «NZZ» geschrieben und an den Songs zu meinen «Corona-Passionsspielen» gearbeitet. Das hat mich psychisch gerettet bisher.
Machen wir uns alle etwas vor, wenn wir glauben, dass alle liegen gebliebenen Produktionen von diesem Jahr irgendwann noch gezeigt werden?
Ich bin sehr gespannt, womit der Markt nächstes Jahr alles geflutet wird. Wir sorgen schon jetzt ein bisschen vor, indem wir für die nächste Saison weniger planen, damit die liegen gebliebenen Produktionen auch programmiert werden können. Wir finden wichtig, dass alles, was geprobt wurde, auch irgendwann gezeigt werden kann. Alles andere wäre eine Verschwendung von Ressourcen – auch künstlerischen.
Ihr Haus reagierte während der Pandemie mit einem sehr flexiblen Spielplan. Warum konnten das andere weniger gut?
Wir hatten den Vorteil, dass wir fest am Haus angestellte Hausregisseurinnen und -regisseure haben – dadurch konnten wir Produktionen besser schieben als andere Theater und waren auch im Lockdown näher beieinander. So konnten am Haus spontan viele originäre Theaterereignisse entstehen, die unmittelbar mit der aktuellen Situation zu tun hatten.
Wird diese Pandemieerfahrung Theatermachen am Schauspielhaus Zürich nachhaltig verändern?
Wir haben lange Planungsvorläufe, für unser Haus war das eine Riesenumstellung. Wir mussten lernen, alle Gewissheiten fahren zu lassen und das auch zu begrüssen. So ein Arbeiten ist zehrend. Etliche Szenarien, wie wir einen Spielplan gestalten wollen, mussten wieder verworfen werden. Da hoffe ich schon, dass das nicht zum Dauerzustand wird. Als Künstler hingegen empfinde ich das flexible Reagieren auf Dinge, die erst mal Widerstände sind, als etwas sehr Belebendes. Ich arbeite gerne mit Unvorhergesehenem und nutze das auch als Arbeitsmaterial.
Stört es Sie, dass das Gefahrenpotenzial von Kulturbetrieben höher eingeschätzt wird als das von Restaurants?
Da merkt man, dass mit zweierlei Mass gemessen wird. Theaterschauen ist ein überschaubares Risiko im Vergleich zu einer überfüllten Gondel. Ich halte die strengeren Massnahmen dennoch für angemessen. Die Zahlen sind einfach irre hoch – immerhin geht es um Menschenleben! Ich würde mir nur wünschen, dass der Beitrag, den wir zur Eindämmung von Covid-19 leisten, nicht durch das Offenhalten etwa der Skigebiete wieder hinfällig wird.
Würden Sie nach einem halben Jahr Corona-Theater behaupten, dass sich die Bühnenästhetik durch die strengen Regeln beim Proben verändert hat?
Die Ästhetiken, die hier am Haus versammelt sind, hatten bislang nicht so grosse Probleme damit. Aber sicher: Schnelle Komödien wie mein Weihnachtsstück «König der Frösche», in denen viel passiert, es eine bestimmte Körperlichkeit und schnelle Dialoge gibt, würde man sicher besser in einer Phase proben, wo Sicherheit nicht zu sehr im Fokus steht. Überhaupt ist das Proben die grössere Herausforderung, als bereits fertige Produktionen Corona-tauglich zu kriegen. Bei Dürrenmatts «Alter Dame», die ich gerade probe, habe ich das Stück für 35 Figuren mit zwei Schauspielern besetzt. Patrycia Ziolkowska und Sebastian Rudolph, die sich gut kennen und sich ein gemeinsames körperliches Arbeiten auf der Bühne gewohnt sind, würden auf jeden Fall ohne Corona deutlich mehr Momente haben, in denen sie sich nah sind (lacht).
Kann Theater helfen, die aktuellen gesellschaftlichen Verhärtungen etwas aufzuweichen?
Davon bin ich aus mehreren Gründen überzeugt, und ich sage das nicht, um hier die Wichtigkeit meiner Kunstform rhetorisch zu überhöhen. Im Theater gibt es Humor und Sinnlichkeit, es gibt Möglichkeiten, verschiedene Standpunkte abzubilden. Man kann unscharf bleiben und dennoch deutlich sein, ohne dabei gleich plakativ werden zu müssen. Im guten Theater gibt es kein Monopol auf Wahrheit.
Den erwähnten Mut zur Unschärfe vermisst man in aktuellen Debatten gerade sehr. Woran könnte das liegen?
Obwohl sich selbst die Experten nicht bis ins Letzte auskennen – wie sollen sie auch? Das Virus ist neu –, haben gerade alle eine Meinung zu diesem Thema – vor allem Nicht-Experten. An der hält man fest. Mit der schlägt man um sich, mit der verhakt man sich dann in den Sozialen Netzwerken. Wenn nun all diese vermeintlichen Gegner in einem Theatersaal sitzen und gemeinsam auf Poesie, Bilder und Sprache reagieren, dann werden diese Fronten aufgeweicht – zumindest schlagen nicht alle voll Hass aufeinander ein wie in sozialen Netzwerken. Davon bin ich überzeugt.
In einer Ihrer Kolumnen sprechen Sie von einer schleichenden Traumatisierung der Gesellschaft. Was bereitet Ihnen am meisten Sorgen?
Die Menschen erleben eine grosse Angst. Viele fühlen sich in ihrer Existenz bedroht – das führt zu Panik, die sich oft in Wut äussert. Für solche Emotionen braucht es ein Ventil. Mir bereitet Sorgen, dass die radikale Rechte diese Situation missbraucht und viele Menschen da einfach drauf reinfallen. Ich denke, wir werden als Gesellschaft nachhaltig erschüttert werden.
Werden wir etwas lernen?
Eigentlich könnten wir das. Dass sich das Virus so schnell verbreiten konnte, hängt auch mit der Art und Weise zusammen, wie wir leben. Dahinter steht die Frage, wie wir die Welt vor dem ökologischen Kollaps retten können. Es wäre schön, wenn man diese Pandemie dafür nutzen würde, etwas daraus zu lernen. Aber im Zentrum steht auch jetzt eher das Sichern der Pfründe, nicht der solidarische Gedanke.
Widerspiegelt sich das auch im Umgang mit den Toten?
Ich finde es krass, wie wenig man sich mit den Toten beschäftigt. Hinter jeder Zahl steht ein Schicksal. Das sind immense Zahlen, die weggedrängt werden mit Floskeln wie «Die waren ja sowieso alle alt». Es ist zurzeit viel Egoismus im Spiel. Den Leuten ist die Fähigkeit abhandengekommen, mit anderen Menschen mitzufühlen oder zu trauern. Zur Person
Nicolas Stemann, 52, gehört zu den einflussreichsten deutschen Regisseuren der Gegenwart. Seit 2019 leitet er zusammen mit Benjamin von Blomberg das Schauspielhaus Zürich. Seine Klassikeraktualisierungen und Elfriede-Jelinek-Uraufführungen wurden an zahlreichen internationalen Festivals gezeigt und mit vielen Preisen ausgezeichnet. Als Schauspieler und Musiker steht Stemann in seinen eigenen Produktionen und Formaten gerne selbst auf der Bühne. Stemann lebt in Zürich und ist Vater zweier Kinder.
Nicolas Stemann: Corona-Passion, Alexander-Verlag, 2020, 104 Seiten.