Kunst darf nicht mehr nerven

8. February 2020

Im Kampf um die Deutungshoheit werden rassistische Begriffe aus Literaturklassikern entfernt und Museumsbilder abgehängt. Die Fantasie ist ein Minenfeld geworden. Ein Essay.

Ich war fünf. Mein Kindergarten probte ein Theaterstück. Bunt wie die Welt sollte es werden. Europäer, Asiaten, Afrikaner kamen darin vor. Ich sollte eine Afrikanerin spielen. Als man mir vor der Probe das Gesicht schwarz anmalen wollte, protestierte ich unter Tränen. Ich erklärte, ich wolle lieber zu den Weissen gehören. Die Kindergärtnerinnen waren ratlos. War das Kind rassistisch?

Heute würde man meiner Mutter gratulieren, dass sich ihr Kind gegen Blackfacing zur Wehr gesetzt hat, das Auftreten weisser Menschen mit schwarz bemalten Gesichtern. Im zeitgenössischen Theater verzichtet man inzwischen auf diese Praxis. Sie gilt als rassistisch. Die ungeschminkte Wahrheit hinter meinem Protest war simpler. Ich wollte keine pampige Schminke ins Gesicht geschmiert bekommen.

Aber Anfang der 1990er hätte eine Debatte über Blackfacing in dem aargauischen Dorf, in dem ich aufwuchs, niemanden interessiert. Es gab keine schwarzen Kinder und keine schwarzen Eltern im Publikum. Also musste sich niemand durch eine «Bunte Welt»-Aufführung gedemütigt fühlen.

Als Kind der 1990er, das die unbekümmerte «Anything goes»-Mentalität mit der Muttermilch eingesogen hat, staune ich, dass auf dem Rücken der Kultur heute wieder Moraldebatten ausgefochten werden. Mit Unbehagen sehe ich, wie meine Kinderbücher umgeschrieben werden, damit sie politisch korrekt sind. Ich fühle mich von der Nachfolgegeneration entfremdet, die der als elitär verschrienen Lyrik nicht den Rücken kehrt, sondern sich wieder über sie aufregen kann.

Wie die Berliner Studenten etwa, die vor zwei Jahren mit Erfolg die Übermalung eines Gedichts von Eugen Gomringer an ihrem Studentenwohnheim gefordert hatten. Unter dem Eindruck von #MeToo empfanden sie «Avenidas» (1953) als sexistisch. Ein männlicher Voyeur vergleicht darin unter knappem Einsatz von Buchstaben und viel Interpretationsspielraum Frauen mit Blumen.

Wie soll ich einem US-Studenten erklären, dass ich Goethes faustischen Wahnsinn, den Mord und Totschlag in Homers «Odyssee» und Sibylle Bergs Brainfuck in «Grm» ohne seelische Schäden überstanden habe? Dass meine Dozenten keines dieser Bücher je zu meinem Schutz von einer universitären Leseliste entfernt haben? Dass ich mich tollkühn in ihre Lektüre gestürzt habe, auch, weil mich auf keinem Buchcover eine Trigger-Warnung vor Mikroaggressionen gewarnt hat, die mich bei angegriffener Seele hätten verletzen können? Solche Trigger- Hinweise fordern US-Studenten für Weltliteratur, die mit ihren Wertvorstellungen kaum mehr eine Schnittmenge besitzen.

Literatur als Gebrauchsanweisung für die Wirklichkeit

Ich bedaure, dass diese jungen Menschen nie erfahren werden, wie Kunst einen verstören kann, durchrüttelt und weiterbringt. Dass die Welt nicht nur gut, sondern leider auch ziemlich böse ist. Die Kunst soll davon nicht ausgenommen sein. Als ich vor Jahren den Film «Still Alice» mit Julianne Moore als demenzkranker Linguistin schaute, löste ihr filmisches Schicksal bei mir einen spontanen Heulkrampf aus: War das nun Katharsis? Oder Violation, wie das amerikanische Studierende sehen würden?

Die Schweizerische Kommission Jugendschutz hat erkannt, dass «Still Alice» Kindern unter 12 Jahren Angst machen kann. Mein Beispiel zeigt, dass dieser Film einen aber auch jenseits der 12 in verschiedenster Art seelisch mitnehmen kann.

Als der Schweizer Autor Urs Allemann 1991 beim Wettlesen in Klagenfurt einen Text vorlegte, der den Satz «Ich ficke Babys» in unzähligen Varianten durchdeklinierte, schrieb der verstorbene deutsche Literaturkritiker und Juror Hellmuth Karasek, dass Literatur keine Gebrauchsanweisungen für die Realität liefere.

Das sehen heute viele anders. Bei der 2018 von der Fondation Beyeler in Basel ausgerichteten Balthus-Ausstellung störte man sich an den leicht bekleideten Mädchen in aufreizenden Posen des 2001 verstorbenen Malers. Ein Jahr zuvor hatte in den USA eine Online-Petition das Metropolitan Museum in New York aufgefordert, eines von Balthus’ Bildern abzuhängen.

Nein, die Welt ist nicht mehr die gleiche. Die Illusion einer homogenen Gesellschaft ist entschleiert. Zugewanderte und Minderheiten kämpfen darum, bei der Gestaltung unserer Lebenswirklichkeit ein Mitspracherecht zu bekommen. Bewegungen wie #MeToo haben sensibilisiert für Übergriffe gegen Frauen. Kein Wunder, dass ein Kulturkanon, für den sich eine weisse, männliche Elite jahrhundertelang durch ihre Brille die Welt kulturell einverleibt hat, neu hinterfragt wird.

Nur so lassen sich Proteste erklären wie die der schwarzen US-Künstlerin Hannah Black. Sie hatte 2017 an der Whitney Biennial in New York publikumswirksam die Zerstörung des Werks «Open Casket» («Offener Sarg») der weissen Künstlerin Dana Schutz gefordert. Das mit besten rassismuskritischen Absichten entstandene Gemälde hat eine Fotografie von einem ermordeten schwarzen Jungen zur Vorlage. Black hatte sich von der kulturellen Aneignung des ikonisch gewordenen Bildes der Bürgerrechtsbewegung durch eine Weisse verletzt gefühlt.

Man kann das absurd finden. Soll ich mich in der Kunst nur noch mit den Problemen meiner Bubble beschäftigen? Fördert das nicht gerade Intoleranz und Scheuklappendenken? Soll Kunst unseren Erfahrungshorizont nicht erweitern?

Kollektiver Zensuraufschrei ist oft nichts als Polemik

Ein bisschen kann ich nachvollziehen, was in Künstlern wie Hannah Black vorging, als sie vor diesem «offenen Sarg» ihrer Geschichte standen. Als der Lichtkünstler Gerry Hofstetter zum Weltdiabetestag 2011 die Fassade des Zürcher Unispitals mit Fotos von Insulinspritzen und buntem Gemüse illuminierte, fühlte auch ich als Diabetikerin mich unangenehm berührt. Was masst sich dieser Künstler an, eine derart oberflächliche Aussage über meine Krankheit zu machen?, dachte ich. So geht es vielen Minderheiten, wenn sie engagierte Kunst betrachten, die sich oft sehr oberflächlich mit fremder Geschichte auseinandersetzt – nur, dass das früher niemandem auffiel.

In solchen Fällen gibt es in den Feuilletons regelmässig einen kollektiven Zensuraufschrei. Die deutsche Literaturwissenschafterin Nikola Rossbach hat ihn in ihrer Publikation «Achtung, Zensur!» überzeugend als Polemik enttarnt. Was wir gegenwärtig als Zensur empfinden, ist ein sehr leidenschaftlich geführter Streit um Wertvorstellungen, ausgetragen in einer vielstimmig gewordenen Gesellschaft, in der mehr Menschen als früher mitreden oder eben noch nicht ganz mitreden dürfen. Weshalb diese Gruppen umso lauter aufschreien und Zensur rufen. Denn erst dann schaut eine Gesellschaft, die stolz auf ihre Kunst- und Meinungsfreiheit ist, hin.

Bedenklich ist dennoch, dass man die Vieldeutigkeit von Kunstwerken heute ausblendet zu Gunsten einer extrem subjektiven Betrachtungsweise. Das zeigen nicht nur die Studentenproteste in den USA, das zeigen auch die Debatten darüber, ob Bücher von Sensitivity Readers, also Angehörigen marginalisierter Gruppen, auf Stereotype hin gelesen werden sollen. Die junge Germanistin und Gründerin der Plattform sensitivity-reading.de, Elif Kavadar, behauptet auf ihrem Blog, «Bücher mit nur weissen Charakteren (oder nur heterosexuellen oder nur ‹gesunden› Charakteren) seien «kein realistisches Abbild unserer Gesellschaft ». Dabei vergisst sie, dass es in der Literatur noch nie darum ging, das Leben so realistisch und fair wie möglich darzustellen.

Diskussion ist sinnvoller als Geschichtskorrektur

Silvia Zanovello ist Lektorin beim Diogenes- Verlag. Mit Sensitivity Readers arbeitet man in ihrem Verlag zwar nicht zusammen. Die Debatten um politisch korrekte Sprache hat aber auch sie interessiert verfolgt. «Wir müssen den Gebrauch von manchen Wörtern heute stärker begründen als noch vor zehn Jahren», sagt Zanovello. Auch eine Vermeidung von heute als rassistisch empfundenen Begriffen findet sie nicht grundsätzlich falsch. «Es ist eine Gratwanderung: Wenn das Wort Negro in einem älteren Text nicht abwertend gemeint ist, würde ich es heute nicht mehr unbedingt mit Neger übersetzen», sagt sie. Eine offen geführte Debatte über historische Textpassagen hält sie dennoch für sinnvoller, als mit der Schere im Kopf nachträglich eine Geschichtskorrektur vorzunehmen.

Lassen wir die Kirche im aargauischen Dorf, von dem aus wir gestartet sind. Solange die Kultur so viele Aufreger bereithält, ist es um die Freiheit der Kunst nicht schlecht bestellt. Die langweiligsten Werke der Weltliteratur wurden übrigens in Gesellschaften geschrieben, in denen wirklich zensiert wurde. Da herrschte eine grosse Einigkeit in allem. Und eine grosse Leere.