Leben kostet

8. October 2017

Luzerner Theater Die Lebensbilanz der Menschen ist immer durchwachsen in den Reportagen des Journalisten Erwin Koch. Auf der Bühne gehen seine erzählten Menschenschicksale mit dem Repertoire des Schweizer Brauchtums eine eigenwillige Verbindung ein.

«Wenn ich eine Uhrzeit wäre, wäre ich am liebsten null Uhr. Weil alles dann erst anfängt.»

Runde Sätze wie diese bringen eine Geschichte ins Rollen. Lebensgeschichten, wie sie die Reportagen des Luzerner Journalisten Erwin Koch von ihrem Ursprung an erzählen. Die nie so rund laufen, wie sie sollten. Der Anfang glückt. Doch die Lebensbilanz ist durchwachsen. Für die kurze Hochkonjunktur bezahlen die Menschen mit Schuld, Schulden, ihrem Leben, ihrer Würde oder ihrem Ruf.

Sechs Geschichten, sechs Schicksale

Da ist der Verwalter der Raiffeisenbank der luzernischen Gemeinde Schötz. In der Gesellschaft spielt er den gütigen Gönner. Wegen Unterschlagung einiger Millionen landet er schliesslich im Knast. Sich selbst hatte er nie mehr geleistet als «ein Tuffsteinbrünnchen fürs Wohnzimmer und einen Audi 100 für die Tiefgarage».

Auch der Informatiker Albert T. lässt sich die Liebe seines Lebens was kosten. Frau und Nebenbuhler rechnen Alberts Tod gegen Alberts Geld. Sein Tod scheint sich für sie auszuzahlen. Albert muss sterben.

Ein Mord wie bei Albert ist bei Felix G. überflüssig. Der Millionär spart, bis er selbst weggespart wird. Die Arztkosten für die Behandlung eines Hornissenstichs waren ihm zu teuer. Erwin Koch bilanziert: «Todesursache: Selbstbehalt.»

Die Tochter des Pilatuswarts, Marie Blättler von Wyl, will kein Geld, sondern nur runter vom Berg («der erste, der hochkommt, den heirate ich»). Das Leben spielt ihr einen Streich: Der Mann ihrer Wahl wird Pilatuswart. Sie muss wieder rauf.

Auch dem am liebsten Unfälle fotografierenden Eisenbahner Josef stellt das Leben eine Falle. Den Verlust seines Arbeitsplatzes rächt er mit einer kostspieligen Wagonentgleisung. Sein Liebesglück mit Doris kommt zwar nicht ins Schlingern, seine Tat bezahlt er jedoch mit seiner Modelleisenbahn.

Gar nichts mehr vom Leben erwartet der kleine Rico. In einer heilen Welt aufwachsend, zerstört er sie – mit einem überlegten Sprung über die Klippe.

Die Zürcher Regisseurin Ivna Žic nutzt die archaische Kraft von Kochs Reportagen am Luzerner Theater für einen Reigen um die Themen Geburt, Leben und Tod, zu dem das Schubert-Lied «Zum Rundtanz» mit den Zeilen des Schweizer Dichters Johann Gaudenz Freiherr von Salis-Seewis (1762–1834) die Zuschauer in eine schauderhafte Stimmung versetzt.

Fünf der sechs Geschichten, die sich fast alle in der Zentralschweiz zugetragen haben, wurden in renommierten Zeitungen und Magazinen abgedruckt. Žic arrangiert sie zu einer szenischen Lesung, in der die in den sechs Geschichten erzählten Menschenschicksale, ihre Geburt, ihre Hoch- und Tiefpunkte nicht mehr gesondert für sich stehen, sondern mit den anderen Geschichten in Berührung kommen.

Neue, überraschende Sinnzusammenhänge

Wie das journalistische Gefäss der Reportage aufwendig zusammengetragene Fakten liebevoll arrangiert und die Deutungshoheit uns überlässt, verzichtet auch Ivna Žic dabei auf jegliche Wertung. Die Verschmelzung der Reportagen schafft neue, überraschende Sinnzusammenhänge.

Das gelingt nicht zuletzt auch wegen Kochs unvergleichlichem Stil, der Zahlen, Details und Datumsangaben geschickt miteinander verkettet. Der regionale Bezug der Texte mag vorhanden sein, doch ins Licht rückt die universale Bedeutung des Erzählten.

Die Zuschauer sitzen dabei die ganze Zeit in einem Kreis auf der Hauptbühne eng beieinander und erleben eine Art Maskenball, wie ihn Erwin Koch auch als Ouvertüre für seine Geschichte vom spendablen Gönner aus Schötz als Rahmenerzählung verwendet.

Das ist insofern ein kluger Entscheid, weil auch Koch in seinen Texten den Menschen ihre Masken abnimmt, ihnen ihre tiefsten Sehnsüchte entlockt, ohne dass die Figuren dabei ihr Gesicht verlieren.

Fiktion und journalistische Faktensammlung

Das Schauspielertrio Adrian Furrer, Wiebke Kayser und Maximilian Reichert nimmt abwechslungsweise eine der an hölzernen Stelen aufgehängten Masken und führt sie ans Gesicht. Die Masken zitieren ein Potpourri des Schweizer Brauchtums: den Tüüfel der Einsiedler Fasnacht, die Krienser Wöschwyber, eine Basler Waggis-Larve oder das Hochzeitspaar der Eierleset (Kostüme: Sophie Reble).

Sie alle haben etwas zu tun mit dem individuell Erlebten von Kochs Protagonisten. Fiktion und journalistische Faktensammlung fallen zusammen, die Geister der Toten tanzen durch die Zuschauerreihen, werden abgeschüttelt wie der Winter beim Brauch der Eierleset, und ganze Lebensspannen schrumpfen auf schroffe Sätze zusammen, mit denen alles gesagt zu sein scheint.