«Nur, weil ich Deutsche bin, muss ich keinen Nazi spielen»

4. November 2023

«Königin von Cannes», «Schauspielerin des Jahres». Die internationale Presse stand Kopf, als zwei Filme mit der deutschen Schauspielerin Sandra Hüller, 45, am wichtigsten Filmfestival der Welt die zwei wichtigsten Preise abräumten. Man war sich einig: Eigentlich hätte der Preis für die beste Darstellerin auch an sie gehen müssen, hätten es die Auflagen des Festivals erlaubt.

Doch die maximal bescheidene Hüller verrät bei unserer Begegnung in Zürich: «Ich bin sehr froh, dass meine beiden Filme gewonnen haben, und nicht ich.» Hüller, die in der Rolle einer verkrampften Karrieristin («Toni Erdmann») berühmt wurde, spielt im Goldene-Palme-Gewinner «L’anatomie d’une chute» eine Schriftstellerin, die unter Verdacht steht, ihren Mann aus dem Fenster des gemeinsamen Chalets geworfen zu haben. Und Hüller lässt sich dabei nicht in die Karten schauen, ob da ein Monster vor uns steht oder eine Frau in Trauer.

Sandra Hüller, Sie spielen in «L’anatomie d’une chute» eine Schriftstellerin, deren Mann entweder durch einen Unfall, durch Suizid oder durch seine Frau zu Tode kommt. Hatten Sie die Frage nach der Schuld vor den Dreharbeiten für sich klären müssen?

Sandra Hüller: Am Anfang nicht, weil die Schuldfrage gar nicht im Zentrum der Geschichte steht, sondern mehr, was die Zuschauerinnen und Zuschauer über diese Frau denken. Der Film spielt ja mit der Wahrheit, zunächst fand ich das gar nicht so wichtig. Kurz vor Drehbeginn bin ich dann doch ein bisschen nervös geworden. Ich habe die Regisseurin Justine Triet gefragt, doch die wollte es nicht sagen.

Ich frage deshalb, weil Mads Mikkelsen am letzten Zürich Film Festival gesagt hat, als Schauspieler müsse man immer mehr über seine Figur wissen als die Figur über sich selbst.

Ach, das sind so omnipotente Fantasien! Daran glaube ich nicht. Erstens wurde jede Filmfigur von einem Menschen geschrieben, und der weiss ganz viel mehr über diese Figur als ich. Dann hat eine Figur auch ein Eigenleben, in das ich als Schauspielerin nicht eindringen darf. Ich bin nur Interpretin und versuche eine Figur mit wenigen Ausnahmen so weit zu verteidigen und ernst zu nehmen, dass Leute ihr folgen und glauben können. Viele Motive bleiben auch mir verborgen. Es ist wie mit Menschen, die man liebt und von denen man auch nicht alles weiss.

Sie gestehen jeder Figur einen unantastbaren Kern zu?

Ja, und der geht mich auch nichts an.

Muss man den schützen?

Ich würde nie mit dem Brecheisen an so eine Figur herangehen. Ich kann eine Figur nicht beherrschen. Ich kann ihr nur dienen.

Ein Kritiker hat einmal gesagt, die Schriftstellerin, die Sie verkörpern, tauge wenig zur Sympathieträgerin. Schon im Kassenschlager «Toni Erdmann» war das so. Versuchen Ihre Figuren gar nicht erst, anderen zu gefallen?

Ich bin so, wie ich bin. Entweder mögen mich die Leute oder nicht. Ich denke, das ist bei den Figuren genauso. Ich nehme sie und ihre schreibenden Erschaffer ernst und gehe davon aus, dass das, was im Drehbuch steht, erst einmal genügt.

Sie gelten als sehr wählerisch bei der Auswahl Ihrer Rollen. Wie lange brauchen Sie, um einer Figur oder einem Drehbuch innerlich das Ja-Wort zu geben?

Das ist unterschiedlich. Wenn ich anfange, den ganzen Tag darüber nachzudenken und zu fantasieren, dann weiss ich, das sollte ich dringend machen. Wenn ich mich über eine bestimmte Haltung der Schreibenden ärgere oder die Dialoge abgeschrieben wirken, lasse ich die Finger davon.

Wir reden oft über gute und schlechte Drehbücher, selten tut man das im Theater, wo Sie eine bemerkenswerte Karriere hingelegt haben. Welche Stücke gehören aus dem Theaterkanon gestrichen?

Friedrich Schillers Königinnendrama «Maria Stuart». Ich werde den Sinn dieses Stücks nie verstehen. Es weckt ähnliche Gefühle, wie wenn man die «Gala» liest. Da ist diese Lust an diesen Celebrity-Königinnen, die sich diesen Kampf liefern, und am Ende schreien sie sich an. Die Figuren haben so wenig Handlungsspielraum. Ich weiss nicht, was es noch zu entdecken geben soll an diesem Stück.

Eine plumpe Männerfantasie also?

Ich merke einfach, dass das Stück von einem Mann geschrieben wurde. Ich lese zwischen den Zeilen diese männliche Lust daran, dass sich diese zwei sehr verschiedenen Frauen auf diese Weise begegnen. Froh sein kann man einzig darüber, dass es hier überhaupt einmal zwei Frauenfiguren gleichwertig auf einer Bühne gibt.

Ärgern Sie sich, wenn Sie im Theater sitzen und sich so ein Stück anschauen?

Als Zuschauerin rege ich mich selten auf über das, was ich sehe, sondern frage mich: Warum habe ich jetzt dieses Gefühl? Was hat das mit meiner Sehgewohnheit zu tun? Warum bin ich so wütend auf diese Art der Darstellung? Theaterschauen hat viel mit Selbstreflexion zu tun.

Schade, dass das nicht alle so gut können wie Sie.

Das kann ich nicht beurteilen. Aber es macht einen Theaterbesuch natürlich interessanter. Man hat mehr Erlebnisse. Und es dauert auch länger, denn man muss nicht gleich empört den Saal verlassen. Man respektiert die Arbeit der anderen und fragt sich dann: Warum bin ich sauer? Das ist doch eigentlich sehr interessant.

Sie haben es immer abgelehnt, in Nazi-Filmen mitzuspielen. Warum?

Mich hat gestört, dass es für deutsche Schauspielerinnen und Schauspieler oft der einzige Einstieg ins internationale Filmgeschäft ist und sie dann dauernd als Faschisten besetzt werden. Das fand ich ziemlich limitierend. Auch mir wurden schon solche Rollen angeboten. Das ist nicht mein Weg. Nur, weil ich Deutsche bin, muss ich keinen Nazi spielen. Und dann stört mich die Reproduktion dieser ganzen Nazi-Symbolik.

Wie meinen Sie das?

Diese Nazi-Uniformen werden teilweise neu genäht. Jedes Mal, wenn– verzeihen Sie meine Wortwahl, aber ich rege mich richtig auf – so ein Scheiss-Swastika-Aufnäher liebevoll mit Handarbeit auf so eine Scheiss-Uniform genäht wird, wird da eine Menge Arbeit in die Reproduktion gesteckt. Dann wehen Swastika-Fahnen von Gebäuden und Leute marschieren durch die Strassen. Damit wird die ganze Wirkung, die damals erzielt werden sollte, reproduziert. Das ist etwas, was ich nicht ertragen kann.

Nun haben Sie für Jonathan Glazers ebenfalls in Cannes ausgezeichneten Film «Zone of Interest» eine Ausnahme gemacht. Sie spielen die Ehefrau des ehemaligen Auschwitz-KZ-Kommandanten Rudolf Höss. Wie war das für Sie?

Früher habe ich keinen Sinn darin gesehen, diesen Menschen meinen Körper zu leihen. Mit der Rolle der Hedwig Höss, der Ehefrau, habe ich eine völlig neue Erfahrung gemacht, nämlich die, dass ich so eine Figur auch spielen kann, ohne dass sie etwas von mir bekommt oder ich involviert bin.

Glazers Film zeigt nicht den Massenmord an den Juden, sondern das Leben der Familie Höss, die sich neben den KZ-Mauern ein Familienidyll aufgebaut hat. Was hat Sie am Drehbuch überzeugt?

Aus dem Drehbuch selbst hätte man auch einen typischen Film über diese Zeit machen können. Aber ich habe schnell realisiert, dass Jonathan Glazer ein sehr hohes Bewusstsein für diese Art von Reproduktion und Repräsentation hat und dass er die Art, wie typischerweise mit diesen Stoffen umgegangen wird, ablehnt. Wir mussten nicht viel diskutieren. Er hatte dieselben Zweifel wie ich.

Schauen Sie sich Ihre Filme an?

Ja klar, ich gehe ja zu Premieren. Im besten Fall betrachte ich mich als Zuschauerin und sehe gar keine Sandra Hüller mehr, sondern eine Figur. Ich denke dann gar nicht mehr darüber nach, wie ich spiele, sondern mir passiert diese Geschichte wie jeder anderen Zuschauerin auch. Das Anschauen von Filmen ist ein Lernprozess. Ich will herausfinden, ob das, was ich wollte, auch wirklich stattgefunden hat. Am Theater ist das anders.

Warum?

Da kommt man nicht in so ein Nachdenken über das Aussen, und das Schöne am Theater ist ja gerade, dass es das dort nicht gibt. Ich sehe ja nie, was ich mache, sondern nur in die Augen meiner Kolleginnen und Kollegen.

Bedrückt Sie der Zuschauerschwund im Theater?

Als Spielerin ist es mir egal, wie viele Menschen im Publikum sitzen. Ich spiele für jede Person, die da ist. Ich kann die Gründe für das Ausbleiben des Publikums sogar nachvollziehen. Die Unsicherheit wegen Corona ist nicht verschwunden und die Menschen halten im Moment einfach ihr Geld zusammen.

Ist Theater in Zeiten von Netflix überholt?

Ich glaube an keine Konstanz von etwas, auch nicht in der Kunst. Aber ich bin überzeugt, dass sich irgendwann ein Weg finden lässt, Theater wieder so attraktiv zu machen, dass einem die Menschen die Bude einrennen. Man braucht für Theater ja keine festen Häuser. Man kann das überall machen. Vielleicht müsste man wieder mehr darüber nachdenken, was es für Theater alles nicht braucht, oder woran wir uns so sehr gewöhnt haben, dass wir denken, dass es dazugehören muss.

Und wenn die künstliche Intelligenz Ihren Job irgendwann wegrationalisiert?

Solche Fantasien habe ich manchmal. Dann denke ich mir: Sollten wir tatsächlich irgendwann nicht mehr die intelligentesten Wesen auf diesem Planeten sein, gäbe es immer noch die Möglichkeit, der KI den Stecker zu ziehen. Dann wäre so etwas Analoges wie Theater plötzlich wieder sehr gefragt.