Verdurstet in der Bleiwüste

30. November 2019

Sie ruhen ungelesen auf Regalen, Nachttischen und am stillen Örtchen. Warum uns das Lesen von Literaturklassikern oft schwerfällt.

Ich habe die letzten Seiten von Thomas Manns «Zauberberg» nie gelesen. Schuld war das Wetter. Die Taschenbuchausgabe des 1008 Seiten langen Wälzers lag während der Schulferien auf unserer Terrasse. Als ein Sommer­ regen die wohlgesetzte Typografie in einen Ozean nassen Papiers verwandelte, verlor ich den Mut. Warum mich mit Hans Castorp durch dessen ewig langen Sanatoriumsaufenthalt quälen, wenn meine viel kürzeren Sommerferien das pralle Leben versprachen?

Dennoch war ich, bis ich zwanzig war, überzeugt, dass man jedes Buch zu Ende lesen müsse. Dass Bücher eine Würde haben, die man verletzt, wenn man sie nicht ausreden lässt. Weil mei­ ne Eltern in der Bundesrepublik gross geworden sind, standen die gesammelten Werke von Heinrich Böll dekorativ in unserem Wohnzimmerschrank.

Also quälte ich mich als 15-Jährige, überzeugt, nur Vollständigkeit verschaffe einem Kompetenz, durch sämtliche Bände, von den Erzählungen und Romanen bis zu Bölls Reden, die mit meinem Erfahrungshorizont wenig gemein hatten. Mit Ausnahme der weiblichen Romanfiguren der Leni Pfeiffer («Gruppenbild mit Dame») und der Katharina Blum hat es niemand von Bölls Personal geschafft, sich in meinen Gehirnwindungen einzunisten.

Gebeichtete Leseabbrüche – «Ich war zu dumm»

Über die Jahre haben mir viele Freunde ihre Leseabbrüche gebeichtet. Wissensdurstig in Angriff genommene Leseabenteuer, die versandet sind. Es sind Eingeständnisse der intellektuellen Überforderung, des schlechten Zeitmanagements, der fehlenden Konzentration und der Faulheit. Die grossen und oft auch langen Klassiker fordern ihre Leser entweder glücksbringend heraus oder machen sie wütend, frustriert und depressiv.

«Ich fühlte mich zu dumm dafür», klagte eine Kollegin kürzlich über James Joyce’ «Ulysses». Ein anderer bekam es mit der Panik zu tun, als er sah, dass im hinteren Teil des Werks plötzlich die Satzzeichen verschwinden und damit die Chance, sich bei akuter geistiger Erschöpfung auch mal auf einem Punkt auszuruhen.

Heute weiss ich: Hätte ich meine Lebenszeit besser rationiert und seit Eintritt ins Schulalter jede Woche ein Buch gelesen, käme ich auf 1400 gelesene Bücher. Das wären nicht einmal die Hälfte der 3500 deutschsprachigen Titel, die der Buchhandel in der Schweiz allein im Jahr 2018 auf den Markt geworfen hat.

Wer liest, ist verloren, wer nicht liest, ebenso

Wir stecken im selben Dilemma wie der Bibliothekar aus Robert Musils Monsterroman «Der Mann ohne Eigenschaf­ ten». Er hütet in seiner Bibliothek dreieinhalb Millionen Bände. Sein Rezept gegen die Bücherschwemme kommt dem auf der Oberfläche von Kurzmeldungen surfenden User von heute bekannt vor: Er liest sie gar nicht. «Wer sich auf den Inhalt einlässt, ist als Bibliothekar verloren», erklärt er seinem verblüfften Besucher. Denn jede Stunde, die er in ein Buch investiere, gehe zu Lasten des Überblicks.

Er hat ja Recht. Wer nur auf Effizienz aus ist, für den ist das Lesen von Romanen vergeudete Lebenszeit. Die Cleversten unter uns haben mit dem Nichtlesen von Büchern sogar gepunktet. Etwa mein Schulkollege, der an der Deutschmatur mit seiner Interpretation von Schillers «Don Carlos» die Bestnote erhielt – eine Zusammenfassung hat ihm zur Vorbereitung gereicht. Dem Lehrer wahrscheinlich auch.

Meine Bekannte, deren Partner Marcel Prousts 5000­seitiges Monumentalwerk «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» während des Studiums vollständig gelesen hatte, hat im Nichtlesen sogar ein besonderes Glück gefunden. Als sie mit der Lektüre starten wollte, riet ihr ein Freund davon ab: «Tu es nicht. Lass ihm, dass Proust sein Geheimnis ist.»

Trotzdem wird ausser beim Reden über Sex selten so viel gelogen wie beim Reden über Bücher. Diese Ansicht teilt der französische Philosoph Pierre Bayard. Denn es braucht Mut, innerhalb einer bestimmten Bildungsschicht zuzugeben, den «Faust» nur vom Hörensagen zu kennen. Lieber stürzt man sich mit gefährlichem Halbwissen und viel Adrenalin haltlos in tiefschürfende Diskussionen.

Genau für diese Menschen hat Bayard 2007 den Essay «Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat» geschrieben. Bayard erklärt darin, wie man mit aufgeschnappten Informationen und dem reichen Erfahrungsschatz seiner Lebenswelt heikle inhaltliche Fragen zu ungelesenen Büchern geschickt umgeht. In Frankreich war das Buch ein Bestseller.

Zu viel Hochachtung tötet die Leselust

Doch wie kommt es, dass die meisten an Robert Musils «Der Mann ohne Eigenschaften» oder James Joyce’ «Ulysses» verzweifeln, wo sich ein Millionenpublikum die 4000­seitigen autobiografischen Aufzeichnungen eines Karl Ove Knausgård reinzieht wie Kokain?

Die Leseforscherin Andrea Bertschi­Kaufmann nennt als Gründe eine im Vergleich mit neuen Medien lang­ same Erzählweise und die unkonventionellen Erzählmuster, die von der Alltagssprache der Leser weit entfernt seien. Ein minuziös im Alltagsslang sein Leben dokumentierender Knausgård hingegen hat sein Publikum schnell in der Tasche.

Die Literaturklassiker sind nicht al­ lein schuld daran, dass sie nur von wenigen gelesen werden. Es liegt auch an unserer Haltung: Wir kriechen vor ihnen im Staub. Mit so viel Hochachtung und dem Zwang, alles verstehen zu wollen, ist ein sinnliches Leseerlebnis kaum möglich.

Joyce in drei Jahren, die Lesegruppe für Freaks

Vielleicht braucht es für die schwer zugänglichen Bücher auch deshalb Selbsthilfegruppen. Die Zürcher James­Joyce­Stiftung richtet seit Jahren wöchentlich englischsprachige Lesezirkel aus, in denen der über 1000 Seiten lange «Ulysses» Woche für Woche lebhaft diskutiert wird. Eine Lektüre dauert drei Jahre. «Nicht wenige unserer Lesegruppenmitglieder steigen bei uns ein mit dem Geständnis, dass sie es mit dem ‹Ulysses› schon mehrfach probiert hätten», erklärt mir Kuratorin Ursula Zeller.

Als ich an einem Donnerstagnachmittag vorbeikomme, um an einer Sitzung teilzunehmen, drückt mir der 91­jährige Joyce­Experte Fritz Senn eine Ausgabe des «Ulysses» in die Hand – meine eigene ist auf dem Dach­ boden verschollen. Mit einer Gruppe Pensionäre lache ich über Sätze, die Joyce dem nicht mit Ausschweifungen sparenden Mr. Deasy in den Mund gelegt hat: «I have to put the matter into a nutshell» («Ich muss die Sache auf den Punkt bringen.»).

Als wir uns nach einer Stunde mit zahllosen historischen Exkursen ins elfte Kapitel gekämpft haben, erklärt Senn mit ernster Stimme: «Wir sind hier nicht gerade für unser hohes Tempo bekannt, aber dieses elfte Kapitel, das hat es in sich. We need to slow down.»

Sicher bin ich nicht, ob ich meinen «Ulysses», sollte ich ihn je wiederfinden, trotz dieser positiven Leseerfahrung doch noch eines Tages beim österreichischen Performancekünstler Julius Deutschbauer abgeben werde. Deutschbauer unterhält eine «Bibliothek der ungelesenen Bücher». Sie besteht aus Büchern, die er Nicht-­Lesern abgekauft hat. Als Gegenleistung beantworten sie ihm Fragen zum Buch. Denn auch Nicht­Leser teilen mit ihren Büchern eine Geschichte. Und die ist manchmal fast so schön wie der Buchinhalt, den sie verschmähen.

Top 10 der ungelesenen Bücher. Top 10

Die Rangliste basiert auf einer Umfrage unter Kultur- und Gesellschaftsredaktoren und -redaktorinnen von CH Media.

James Joyce, «Ulysses» (1040 Seiten)

Ein experimenteller Erzählstil und Anspielungen auf die irische (Lokal-)Geschichte machen das Buch zur Knacknuss.

Gottfried Keller, «Der grüne Heinrich» (1395 Seiten)

Ein Bildungsroman, der chronologisch ein vorindustrielles Leben ausbreitet – viele moderne Leser nutzen ihn als Einschlafhilfe.

Robert Musil, «Der Mann ohne Eigenschaften» (992 Seiten)

Ein Roman ohne Ende, der mit essayistischen Einschüben eine erschöpfte Gesellschaft porträtiert.

Marcel Proust, «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» (5000 Seiten)

Ein Kerl verliebt sich, aber es klappt nicht. Sieben Bände mit seitenlangen Schilderungen – etwa der eines Regentropfens.

Johann Wolfgang von Goethe, «Wilhelm Meisters Lehrjahre» (512 Seiten)

Der junge Wilhelm will Theatermann werden und lässt es trotz Erfolgen sein. Novalis fand es «ein fatales und albernes Buch».

Thomas Mann, «Der Zauberberg» (1008 Seiten)

Sieben Jahre im Sanatorium – ein Erfahrungsbericht. Die Streitgespräche unter den Patienten sind für viele ein Aussteiger.

Gabriel García Márquez, «Hundert Jahre Einsamkeit» (528 Seiten)

Ein Buch, das eine Familiengeschichte über sechs Generationen erzählt – mit vielen Vor- und Rückgriffen.

Dante, «Die göttliche Komödie» (432 Seiten)

Dante in Versform ins Jenseits zu folgen, ist nicht jedermanns Sache. Zur Orientierung braucht es dringend einen Kommentar.

Johann Wolfgang von Goethe, «Faust II» (489 Seiten)

Faust strebt zu grossen Taten – und scheitert. Jeder Lehrer warnt: zu schwierig! Mit ein Grund, warum ihn niemand liest

Karl Marx, «Das Kapital» (ca. 4000 Seiten)

Fürs «Kapital» muss man viel Theorie pauken. Weil es viele gute Zusammenfassungen gibt, traut sich kaum jemand ans Original.